Meldung vom: 23. September 2019, 17:23 Uhr
Inhaltlich gestaltet haben die Tagung:
Ein ausführliches Resumee ihres Workshops Heimat in Zeiten des Heimatministeriums geben Miriam Neßler, Kristiane Fehrs und Selina Müller:
In unserem Workshop wollten wir den Blick auf den Begriff Heimat richten und diesen in seiner alltäglichen, politischen und auch kulturanthropologischen Dimension untersuchen. In einer ersten Sammlung mit den Teilnehmenden erstellten wir aus den Assoziationen ein Cluster zum Begriff Heimat mit folgenden, unscharf sich abstufenden Kategorien: Heimat als 1. konkrete Orte/ Menschen/ Dinge, 2. „zu Hause“/dort wo ich aufgewachsen bin, 3. Gefühl(e), 4. politischer Begriff und 5. bloßes Konstrukt.
Ausgangspunkt unseres Workshops war die Einrichtung des sogenannten Heimatministeriums mit Horst Seehofer als neuem Minister. Neben dem medialen Diskurs über Heimat interessierte uns auch die konkrete Ausgestaltung des Heimatministeriums. Da sich das Ministerium derzeit noch in Aufbau befindet und seine Kompetenzen noch nicht geklärt sind, untersuchten wir den Heimatbegriff des Koalitionsvertrages der großen Koalition von CDU/CSU und SPD. In diesem taucht der Begriff Heimat in Zusammenhang mit einer politischen Ermächtigung und finanziellen Ausstattung der Kommunen auf, der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse, Infrastrukturplanung, der Stärkung des Ehrenamtes und ähnlichem. Aber es ist in Verbindung zu Heimat auch die Rede von einer „Bekämpfung der Ursachen und Folgen europäischer Armutszuwanderung“. Wir beschlossen, die Vieldeutigkeit des Begriffs Heimat zu nutzen, um zusammen mit den Teilnehmenden des Workshops eine interventionistische Erkundung durchzuführen. Im Laufe einer halben Stunde befragten die Studierenden auf der Straße Passant^innen in ihrer Rolle als Alltags-Heimatminister^innen. Als Orientierung dienten die Fragen
Analog zu unserem ersten Cluster ergab sich bei der Passant^innen-Befragung eine Breite von Definitionen von Heimat. Diese wurde ergänzt von exklusiveren Heimatverständnissen und Negativdefinitionen, die sich in Assoziationen wie dem "Verlust von Heimat" niederschlugen. Die Workshopteilnehmenden berichteten von sehr unterschiedlichen Reaktionen und waren sich ihrer für eine Antwort auf die Fragen sehr ausschlaggebenden Rolle bewusst. Unterschiedliche soziale und kulturelle Kontexte scheinen unterschiedliche Antworten auf "Heimatfragen" legitim bzw. illegitim zu machen. Die Frage nach konkreten Aufgabenbereichen eines Heimatministeriums ergab eine Breite politischer Handlungsfelder, ähnlich der Themen, die im Koalitionsvertrag unter dem Überbegriff Heimat zusammengefasst werden. Die konkreten Ansatzpunkte reichen von der Förderung ländlicher Regionen, über Natur- und Umweltschutz, Infrastruktur und ähnlichem bis hin zu problematischen reaktionären Äußerungen zu einer Forderung von „Entmischung“ und einer Verhinderung von Veränderung. Der Heimatbegriff scheint den Interviewpartner^innen eine Möglichkeit zu bieten, von ihnen wahrgenommene Defizite, Erklärungsansätze und Lösungsvorschläge aufzuzeigen. Der Begriff Heimat dient also gewissermaßen als Klammer für Wünsche und Bedürfnisse aber auch Ängste. So wird er zu einem imaginierten Zustand, in den Wünsche und Ängste hineinprojiziert werden; Heimat wird zur Utopie, zu einem Bild in den Köpfen der Menschen, das beinhaltet, wie es sein könnte oder sein sollte. Problematisch bleiben die Konnotationen von Heimat als ausschließender, exklusiver Raum. Der aktuelle Heimatdiskurs sollte von uns jedoch nicht nur als Phänomen der heutigen Gesellschaft untersucht werden. Uns interessierte auch ein kulturanthropologischer Blick auf den Heimatbegriff. Es stellt sich die Frage an unsere Disziplin: Wollen wir den Begriff Heimat in der Forschung verwenden und somit reproduzieren? Wenn ja dann müssen wir, und das zeigte sich bereits in unserer halbstündigen Forschungsintervention in Jena, uns Gedanken darüber machen, wie wir als Forscher^innen im Gespräch mit rechtem Gedankengut und menschenfeindlichen Äußerungen umgehen wollen und können. Können die von uns im Rahmen des Workshops als Experiment durchgeführten "performativen Interviews" möglicherweise eine geeignete Methode sein, um mehr über so alltägliche und (trotzdem) politisch brisante Themen wie Heimat zu forschen?
Viele Schlaglichter aus Sicht unseres Faches sowie über fachliche Strukuren selbst haben sich im Rahmen der Tagung auf das Thema Utopie ergeben und die Forschungsthemen junger Fachvertreter^innen zur Diskussion gestellt. Neben den Workshops gab es ein buntes Programm mit Grillabend, Kurzfilmen und dem Kernstück kreativen Beisammenseins: der Gestaltung unseres Tagungsturmes als Versuch einer lebendigen Ethnographie des Wochenendes (derzeit im Institut für Volkskunde/Kulturgeschichte in Jena zu besichtigen). Wir haben versucht, in Jena einen Raum für offene und breite Debatten zu bieten, der sowohl den Studienstandort und die regionale Facette unseres Faches repräsentiert, als auch den Ansätzen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum einen Platz gibt.
Ganz herzlicher Dank gilt dem Institut für Volkskunde/Kultugeschichte in Jena, der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde, den Freunden und Förderern der FSU Jena sowie allen weiteren Unterstützer^innen im Namen des ORGA-Teams:
Lukas Davids, Nadine Götte, Anna Hümme, Nathalie Isaak, Anne Jaschke, Katharina Jung, Sandra Kastenbauer, Dominic Keysner, Stefanie Marquard, Ekkehard Metzger, Tino Müller, Carlo Schmidt, Farina Schwuchow, Paula Swade und Oliver Wurzbacher
Im nächsten Jahr heißt es dann für Studierende aus Jena und ganz Deutschland: auf nach Wien zu neuen Diskussionen!